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Wörtches Crime Watch 09/2006

 

Hans-Peter Schwarz: Phantastische Wirklichkeit

 

Phantastische Wirklichkeit Die deutsche Verlagslandschaft und lesbare Bücher über Kriminalliteratur - ein unendliches Trauerspiel. Seit Jochen Schmidts »Gangster, Opfer, Detektive« von 1988 ist kein akzeptables Übersichtswerk bei einem Publikumsverlag mehr erschienen. Im Gegenteil, ein unfreiwillig komisches Werk wie Ulrike Leonhardts »Mord ist ihr Beruf«, ein Dokument der Ahnungslosigkeit wie »Das Mordsbuch« oder das völlig unbrauchbare »Reclams Krimi-Lexikon« haben sogar noch freundliche Befürworter gefunden. Das sagt über den Status des Genres auf dem bourdieuschen "literarischen Feld" fast noch mehr aus als das qualitativ zunehmend regressive Leseverhalten des Publikums.

Wer auf der Verlagsseite solche Bücher verantwortet und in Rezensionen lobende Worte dafür findet, ohne schamrot zu werden, demonstriert Folgendes: Es ist uns egal, dass wir keine Ahnung haben, mehr noch: Keine Ahnung zu haben ist eine vorzügliche, uns hebende Tugend - weil wir de facto ungebildet sind, sind wir die wahrhaftig gebildete Elite. Irrer geht's nimmer.

Genau diesen Mechanismus finden wir in »Phantastische Wirklichkeit. Das 20. Jahrhundert im Spiegel des Polit-Thrillers« von Hans-Peter Schwarz. Der Autor ist Zeitgeschichtler, das ist sicher für die Kenntnis des 20. Jahrhunderts von Vorteil. Von Literatur hingegen versteht er überhaupt nichts. Das demonstriert schon der vierte Satz des Buches: "Während der Kriminalroman von Conan Doyle bis Elizabeth George...", stopp, mehr muss man nicht zitieren. Auf eine andere Art von Literatur übertragen, müsste der Satz etwa so heißen: "Während der deutsche Roman von Franz Kafka bis Uta Danella... ". Evidenter kann man die eigene Ignoranz kaum belegen.

Und so geht es fröhlich fort: Völlig klar ist für Schwarz, dass Polit-Thriller (oder Spionageromane oder Agenten-Thriller, er weiß auch nicht so recht) Trivialliteratur sind, ungeachtet ob sie von Graham Greene stammen oder von Clive Cussler. Analogbildung: Liebesromane, egal ob von Gustave Flaubert oder von Barbara Cartland, sind Trivialliteratur. Diese Mischung, die a priori ein Verzicht auf literarische und ästhetische Kriterien ist - denn wo sollte Schwarz die auch hernehmen, außer aus dem ubiquitären Marketing-Geplapper über Literatur von Wickert, MRR und Heidenreich - bedeutet, dass er zusammengewürfelte Texte symptomatisch interpretiert. Also außer-literarisch. Wieder analog: Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland anhand der Bäckerblume. Das ist uralte, leicht schimmelige, schlecht verstandene "Literatursoziologie". Wenn Schwarz dann zu der Erkenntnis kommt, dass in vielen Polit-Thrillern "ein zeitkritischer Kern" steckt und dass das "tiefere Bewegungsgesetz des Genres die Zeitgeschichte" ist, dann entspricht die Simplizität der Methode dem Ergebnis.

Von daher ist es kein Zufall, dass er Textfabrikanten wie Paul E. Erdman, Colin Forbes, Clive Cussler oder Robert Ludlum auf die oberflächlichsten Kontexte ihrer aufgeblasenen Heftchen hin untersucht, aber wirkliche Schriftsteller von Rang wie Ross Thomas, Len Deighton, Robert Littell, Charles McCarry, James Grady, Brian Freemantle oder Gavin Lyall nicht oder kaum erwähnt. Diese Autoren kennt Schwarz entweder nicht, was ihn natürlich noch mehr qualifiziert, ein solches Buch zu schreiben. Oder er hält sie für äquivalent zu den oben genannten (nach dem Prinzip: Kafka hat nicht so viel verkauft, da nehm' ich lieber Hanns-Heinz Ewers). Oder sie stören ihn, weil er dort auf Literarizität stößt. Dabei hätte man anhand genau dieser Autoren zeigen können, wie die literarische Form, notfalls bis in die Syntax, mit Zeitgeschichte umgeht und was das für die Ästhetik erzählender Literatur heißen kann. Es geht bei der Auswahl der Paradigmen also nicht um Meinung, sondern um Kompetenz beziehungsweise Intention. Weil ich bei Schwarz allerdings keine Intention beim Vermischen von kategorial unterschiedlichen Texten erkennen kann, mag es wohl Mangel an literarischer Kompetenz sein.

Bleibt die Frage, warum ein Verlag solch Büchlein druckt? Weil auch dort Leute sitzen, die womöglich noch weniger Ahnung, noch weniger Reflexionsvermögen haben? Und die womöglich ein kompetentes Manuskript ablehnen würden, weil eben ihre eigene Unbildung zum Nachweis wahrer Bildung dient? Und wenn wir das mal auf das intellektuelle Klima dieses Landes hochrechnen, dann wüsste ich nicht, wie ein Polit-Thriller dieses Zeitgeschehen "spiegeln" sollte.

Hans-Peter Schwarz: Phantastische Wirklichkeit. Das 20. Jahrhundert im Spiegel des Polit-Thrillers. München: DVA, 2006, 344 S., 22,90 Euro (D)

 

© Thomas Wörtche, 2006

 

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