Neben all dem Formelkram, dem easy read und dem boulevard reading und dem ganzen leichtverderblichen Zeug, gab und gibt es immer noch eine starke Strömung von "Kriminalliteratur". Die läßt sich auch nicht mit der mittlerweile obligatorischen Warnung vor dem Übergewicht der "Unterhaltung" über die "Literatur" wegdiskutieren. Sie ist vermutlich deswegen so störend, weil sie solche Arten von interessengesteuerten Scheinoppositionen aushebelt, ohne daß man sie deswegen der ironischen Zitatkultur der "Postmoderne" zuschlagen kann. Denn es gibt einen Strang narrativer Literatur, der außerhalb aller Diskurse à la mode verläuft. Und zwar überall auf dieser Welt.
Eine Voraussetzung allerdings sollte schon gegeben sein: Man muß diese Sorte Literatur kennen können. Und das macht dem Publikum ein Literaturbetrieb schon schwer, der sich zum Beispiel geschlagene fünfzehn Jahre mit der Übersetzung kapitaler Bücher Zeit nehmen kann - wenn man Glück hat.
Im Fall von Pierre Magnan hatten wir Glück. Sein kapitaler Roman "Das ermordete Haus" (von 1984) ist ein Brocken, an dem die Metaebenen einfach abprallen. Obwohl der Roman in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg spielt, ist er kein historischer Roman. Obwohl er in der Provence spielt, ist er kein Regionalroman. Obwohl er ein Kriminalroman ist, ist er kein Krimi. Und obwohl er nach allen ästhetischen Maßgaben der Moderne erzählt ist, ist er kein moderner (schon gar nicht postmoderner) Roman, und obwohl er das nicht ist, ist er kein naiver oder simuliert altväterlicher Roman.
Auch gegen andere Kalküle verstößt er jederzeit. Die Provence in sozusagen "spätimpressionistischer" Zeit, ist keine vom berühmten Licht der Gegend durchglühte Landschaft, sondern ein karger, düsterer Ort seltsamer Schrecken. Die wirtschaftliche Ödnis vor dem Großen Krieg und die psychischen und physischen Folgen danach prägen das Seelenleben der Menschen dort. Und was anhebt wie eine Rachegeschichte, endet als Höllentrip in die Biographie des Helden. Der heißt Séraphin Monge und ist, damals als Säugling, der einzige Überlebende eines Massakers, bei dem eines nachts seine ganze Familie aufs Schauerlichste hingeschlachtet wurde. Nach den Jahren im Waisenhaus und nach dem wundersamen Überleben später in den Schützengräben kehrt Monge in seine Heimat zurück. Er will wissen, wer er ist und was damals wirklich passiert war. Zu diesem Behufe reißt er sein Elternhaus - einen bösen, verwunschenen Ort, den seit zwanzig Jahren niemand anrühren wollte - mit bloßen Händen nieder. Stein für Stein, Brett für Brett, Mauer für Mauer. Je mehr er das Haus verwüstet, je mehr merkwürdige Dinge er aus dem Schutt ans Tageslicht befördert, desto unklarer und geheimnisvoller wird seine eigene Geschichte. Und als die vermeintlichen Mörder seiner Familie nach und nach selbst ums Leben kommen, ohne daß unser Monge etwas dahingehend unternommen hätte, wird alles noch viel horribler.
Hier entfaltet Pierre Magnan plötzlich ein solches Brillantfeuerwerk an Story-Twists, daß man sich im abenteuerlichsten "Krimi" wähnt. Aber was da auf die präformierte künstliche Erzählform "Krimi" trifft, erweist sich als hoch plausibel und ästhetisch lückenlos gefügt. Sowohl psychologisch, von der Zeichnung von Figuren, Ort und Zeit her gesehen, als auch textstrukturell vom ersten Kapitel an. Gleichzeitig wird die "Identitätssuche" des Provinzjungen in seiner Heimat zum globalen Thema des 20. Jahrhunderts. Stück für Stück verliert Monge seine Identität, um zu sich selbst zu finden. "Er stieg auf sein Rad", heißt der letzte Absatz. "Er begann in die Pedale zu treten. Kein einziges Mal mehr hat er sich umgesehen."
Wer sich jetzt wegen der Vermischung einer populären Erzählform mit ganz und gar eigensinnigen Inhalten an Guy de Maupassant erinnert fühlt, liegt nicht ganz falsch. Der gehört nämlich auch in diese merkwürdige, aber konstante Tradition des Erzählens, die ohne Rückbindung an zeitgeistige Diskurse, aber mit Mitteln auf der Höhe der Zeit Geschichten zu erzählen hat.
Man kann nur hoffen, daß wir von Pierre Magnan bald mehr zu lesen bekommen.
© Thomas Wörtche, 1999
Pierre Magnan: |
|
«Wörtches Crime Watch 9/1999 | zurück zum Index | Wörtches Crime Watch 11/1999» |