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Leichenberg 04/2018

 

64

Ein 760-Seiten Epos über Machtkämpfe in einer Behörde zu schreiben, ist zumindest ehrgeizig. Weil diese Behörde in Hideo Yokoyamas Roman 64 (Atrium) die Polizei einer mittleren Großstadt namens "D." irgendwo in Japan ist - "580000 Haushalte. 1820000 Bürger" - und diese Behörde neben dem Alltagsgeschäft gerade mit einem nicht gelösten, 14 Jahre alten Entführungsfall beschäftigt ist, zu dem sich ein neuer, ähnlich gelagerter Fall hinzugesellt, scheinen zunächst einmal alle Voraussetzungen vorhanden, um von einem Kriminalroman zu sprechen. Hauptfigur ist Yoshinobu Mikami, der Pressedirektor der örtlichen Polizei, also ein Mann der Verwaltung. Früher war Mikami Ermittler bei der operativen Abteilung und damals mit dem Fall "64", wenn auch nicht in führender Position, beteiligt. Zwischen der Verwaltung und den operativen Abteilungen herrscht ein erbittertes Machtgerangel, das sich vor allem auf das Verhältnis zur Tokioter Zentrale und damit um politischen Einfluss dreht. Fall "64" ist der Codename für die Entführung und Ermordung eines kleinen Mädchens, der aufgrund böser Pannen nie aufgeklärt wurde. Wie sich herausstellt, wurden diese Ermittlungspannen unter den Teppich gekehrt, um Image-Schaden von der sich als omnipotent denkenden Ordnungsmacht abzuwenden. Jetzt steht der Fall kurz vor der Verjährung, was für den Generalinspekteur der Nationalen Polizeibehörde aus Tokio Anlass für eine Imagekampagne ist: Die japanische Polizei gibt nie auf. Deswegen will er mit dem hinterbliebenen Vater des Opfers öffentlichkeitswirksam reden. Ein angekündigter Besuch, der die Polizei von D. in Panik und Entsetzen stürzt. Gleichzeitig drohen rigorose "Spielregeln" für die Presse, die von der Führung kommen, für Unmut und offene Opposition der Medien. Mikami muss einen Mehrfrontenkrieg führen - er soll die Presse befrieden, er soll den Vater des Entführungsopfers zur Kooperation überreden, er soll seine neue Loyalität gegenüber der Verwaltung beweisen, von der er als potentieller Gegner, weil von der Ermittlerseite kommend, gesehen wird und er soll seine kriminalistischen Standards nicht verraten, die den Pfusch bei "64" nicht ignorieren können, und sich also gegen seine Kollegen wenden. Erschwerend hinzu kommt, dass seine eigene Tochter vermutlich weggelaufen, auf jeden Fall spurlos verschwunden ist und seine Ehe daran zu zerbrechen droht. Als alle diese Problemfelder sich zu einer hyperkomplexen, hochexplosiven Gemengelage aufgeschaukelt haben, geschieht wieder eine Entführung, als deren Blaupause Fall "64" deutlich zu erkennen ist. Alle diese Stränge dröselt Yokoyama einlässlich auf - fast in Zeitlupe. Wir sind ganz nahe bei Mikami, wir folgen seinen akribisch zergliederten Gedanken, seinen Zweifeln, seinen Nöten, seiner Panik, seiner fachlichen Kompetenz, seinen Irrtümern, seinem Ehrgeiz, seinen Niederlagen und seinen Siegen. Die ersten zwei Drittel des Romans befassen sich hauptsächlich mit den Intrigen und Gegenintrigen im Polizeiapparat und mit den Recherchen Mikamis, der das Versagen von damals für viele Beteiligte schmerzhaft rekonstruiert. Erst als der aktuelle Entführungsfall aufkommt, nimmt der Roman narrativen Drive auf. Und den hatte man lange vermisst. 64 bewegt sich lange sehr zähflüssig, was man vielleicht als wider "Genre-Konventionen" gerichtet verstehen kann. Man kann es aber auch, ist der Algorithmus erstmal und relativ schnell erkannt, als bedeutungsschwangeres Aufpumpen topischer Elemente lesen: Konkurrierende Polizei-Fraktionen, Vertuschung, private Probleme, Loyalitätskonflikte, Skrupel und Zweifel, politische Implikationen der Polizeiarbeit, Vergeltungsaktionen, Impact der Medien, kleinteilige Ermittlungsarbeit, der human factor - da steckt im Grunde wenig Überraschendes oder Originelles drin. Und die Perspektive des anständigen Polizisten und der Prozess seiner Selbstfindung (der literarisch und geistesgeschichtlich im europäischem 18. und 19. Jahrhundert wurzelt oder zumindest analog konstruiert ist) generieren hohe Sympathie- und Identifikationswerte, man soll und muss Mikami mögen. Aber der bedeutungsheischende Gestus und der große Aufwand für nicht allzu Gewaltiges erzeugt schon ein gewisses Unbehagen.

Seht, was ich getan habe

Ähnlich seltsam ambitioniert ist Seht, was ich getan habe von der australischen Autorin Sarah Schmidt (Pendo) - ein Buch, das die Ereignisse des 4. Augusts 1892 rekonstruieren möchte, dem Tag, an dem Lizzie Borden anscheinend ihren Vater und ihre Stiefmutter massakriert hat und damit zu der beliebtesten Axtmörderin der Populären Kultur wurde, multimedial verarbeitet, gar zu einer Franchise-Figur geworden, großartig porträtiert in Walter Satterthwaits Roman "Miss Lizzie" (und einem Sequel). Verurteilt wurde sie nie, was ihren Nimbus ausmacht. Hat sie nun - oder hat sie doch nicht? Tatsächlich tendiert auch Sarah Schmidt zu einer Variante, aber auch sie sät leise Zweifel. Sie fächert den Roman in verschiedene Perspektiven auf - einmal Lizzie selbst, dann ihre Schwester Emma, die Haushälterin Bridget und der möglicherweise von Lizzies Onkel als Mörder gedungene Benjamin. So entsteht ein beklemmendes Familienporträt der nicht sehr netten Bordens: eine überforderte Stiefmutter, ein geiziger, engherziger Vater, zwei fatal ineinander verhakte Schwestern - was für ein Horror. Versinnbildlicht durch eine immer wieder aufgewärmte, eklige Hammelbrühe, deren Fleischfasern den Figuren in den Zähnen hängen (ein Bild, das nach der Lektüre beklagenswerterweise in der Tat hängen bleibt, würg) und durch die Plopp-Geräusche, die beim Taubenschlachten entstehen. Nach der Lektüre wissen wir immer noch nicht, ob Lizzie die Axt geführt hat, aber wir würden mit ihr sympathisieren, wenn. Obwohl sie selbst ein nicht gerade nettes Neurosenbündel ist. So wie alle anderen Personen ihrer Familie, wobei das irische Dienstmädchen Bridget als "normalsinniger" Gegenpol aufgebaut wird, inklusive eigener Biographie, die so überflüssig ist wie die Passagen, in denen wir alles von Benjamin erfahren, was wir für den Roman eigentlich gar nicht zu wissen brauchen und was auch wenig explikativ ist. Schmidt folgt dem psychologischen Realismus des 19. Jahrhunderts, der nach "tiefen Figuren" verlangt - das blödsinnige Stichwort heißt heutzutage "Charakterzeichnung", fast immer ein Hinweis auf prämoderne und naive Vorstellungen von Literatur - und sie folgt ihm mechanisch, weil dadurch Wichtiges und Unwichtiges eine Art sinnlos gleicher Wertigkeit bekommen. Nichts Neues von der Lizzie-Front also, aber dieses Nicht-Neue ist als schwer bedeutende Tiefenbohrung angelegt, deren Unfunktionalität schon beinahe evident ist. Und alles andere als spannend.

Der Klügere lädt nach

Glücklicherweise ohne Aufwand und Getue funktioniert Castel Freemans Der Klügere lädt nach (Nagel & Kimche). Im Grunde ist der Roman ein sehr, sehr säkulares Re-Writing von Jim Thompsons "Pop 1280" (oder eher von Bernard Taverniers Verfilmung "Coup de torchon", ein all time favorite). Der gehörnte, harmlos und gutmütig tuende Dorfsheriff Lucian Wing hat sehr effektive Vorstellungen vom ruhigen Landleben und eine sehr konsequente Einstellung, was man so mit den Störenfrieden machen kann, fein tariert nach der Schwere ihrer lästigen Missetaten. Und wer richtig auf Ärger aus ist, tja... Transzendenz oder irgendeinen anderen metaphysischen Fidelwipp (wie bei Thompson/Tavernier) braucht Wing überhaupt nicht, er agiert ganz und gar pragmatisch und with a little bit help from his friends. Das Ganze ist gutlaunig, sehr komisch, ohne Country-Noir-Albernheiten, strikt und kunstfertig durcherzählt wie ein kräftiger Strich, mit bezauberndem Sarkasmus. Absolut vergnüglich.

Run

Eine interessante Ausgrabung kommt vom Luzifer Verlag: Run von Douglas E. Winter. Ein rasantes Verwirrspiel um einen einfach erscheinenden Waffendeal, der allerdings riesige politische Dimensionen hat. Und so gerät die Hauptfigur Burdon Lane, ein eher benevolenter Gangster, der auch aus dem Westlake-Universum stammen könnte, in Teufels Küche. Zwei schwarze Gangs sollen gegeneinander ausgespielt, ein schwarzer Politiker abgeräumt und überhaupt an der White Supremacy gearbeitet werden. Lane, der brave Soldat, als der er von seinen Bossen gesehen wird, ist natürlich nicht so brav, Verrat und Heimtücke lauern überall - und dann sprechen die Waffen, der Bodycount ist beträchtlich. Winter, ein schreibender Anwalt und Kritiker, der sich ansonsten eher in Horror-Gefilden tummelt, mischt hier Gangster-Roman und Polit-Thriller zu einem ziemlich explosiven Cocktail, der zudem politisch - das Buch stammt aus dem Jahr 2000 - erstaunlich klarsichtig ist: die politischen Strippenzieher von damals sind jetzt an der Regierung, könnte man pointiert sagen. Auf der literarischen Ebene versucht Winter, die üblichen Licks und Standards zu vermeiden - Verkürzungen, Tempo, wenig Introspektion, kaum Erklärungen, keine ausufernden Dialoge, Action statt Diskurs, das ist alles sehr erfreulich und mutet immer noch "modern" an. Allerdings schleicht sich auch zu viel Pose ein - zu superduperknallhart, schon fast pathetisch "gnadenlos" und "verdammt schonungslos", aber letztendlich doch nicht konsequent (weil ausgerechnet dann Sentimentalität ins Spiel kommt, wenn eine Frau mal eine Rolle spielt), am Ende eher kitsch noir, und auch weil in der Häufung der Ballerorgien nichts anderes steckt als eben viel Geballere. Und der Held reitet einsam in die Dämmerung, ohne jede Ironie, ohne jeden Sarkasmus, die das Buch passagenweise so erfreulich machen. Also irgendwie mit viel Bremsschaum ausgestattet, gerade wenn es anfängt spannend, zu werden. Das ist schade und macht "Run" dann doch nicht zu dem großen, übersehenen Klassiker, der der Roman mit mehr Konsequenz und Radikalität hätte sein können. Aber immerhin: Nice try.

Dark City

Nicht nur buchstäblich schwergewichtig ist der von Jim Heimann herausgegebene und kommentierte Prachtbildband Dark City. The Real Los Angeles Noir (Taschen). Heimann historisiert Los Angeles als Noir-Metropole ungefähr zwischen 1920 und 1960, weil die Stadt in dieser Zeit besonders als Gegenbildlichkeit zu ihrem optimistischen Image einen eigenen Code des Dunklen, Verbrecherischen, Unmoralischen und Verdorbenen entwickelt hat. Ein Code, den Heimann mit Pressefotos, Filmstills, beigebundenen Exemplaren von Periodika wie "Confidential" oder "Official Detectives" und Bergen anderer Trouvaillen belegt. Eine Art Verbrechensgeschichte in Bildern (mit den dazugehörigen literarischen Fiktionen der einschlägigen Art) als Komplementärgeschichte des Offiziellen. Die historische Eingrenzung zeigt den Noir ganz deutlich als Phänomen der Stilisierung, bei dem sich verschiedene Sorten von Bildwelten und Perspektiven zu einer Art mythischen Ästhetik vermischen, die sich durch die verschiedenen Medien und Narrative durchzieht. Der Kontrast zu den offiziellen Bildwelten, deren Negation der L.A.Noir ist, so gesehen, konstitutiv für den Noirselbst: "Die Schattenseite von Los Angeles gärte vor sich hin wie in der ewigen Sonne faulende Orangen". Heimanns These, dass sich spätestens in den 1960er Jahren jede andere Stadt ebenfalls ihren Noir verdient hatte, der paradigmatische L.A. Noir sein Alleinstellungsmerkmal verloren hat und nur noch historisch fassbar ist (wie in den Büchern von James Ellroy und Walter Mosley, etwa) hat durchaus ihren methodischen Vorteil. Unsere Bilder, Sounds, Mythen und Phantasien von Noir haben in diesem Chronotopos ihren Grund und ihren Nährboden - davon kann sich auch die heutige Inflation des Begriffs nicht lösen. Und wenn er das tun will, wird er leicht lächerlich oder zum beliebigen, marketingtechnischen Kleingeld. Aber auch ohne solche Überlegungen ist "Dark City" ein fast unerschöpflicher Thesaurus an einschlägigen Materialien.

Die Sünde der Frau

Etwas irritiert lässt einen der Essay-Band Die Sünde der Frau (Diogenes) der niederländischen Autorin Connie Palmen zurück. An den Beispielen Marilyn Monroe, Marguerite Duras, Jane Bowles und Patricia Highsmith geht es ihr um den Preis, den Frauen für ein selbstbestimmtes Leben zahlen müssen - konstitutiv und habituell. Ob tatsächlich Highsmith' Misanthropie, ihre rassistische und antisemitische Verbitterung, ihr katastrophales Sozialleben, ihr Alkoholismus und ihre Depressionen ausgerechnet in der Figur des Mörders Tom Ripley ihren möglicherweise selbsttherapeutischen Spiegel haben, scheint mir eine steile These zu sein, die zudem reiner Biographismus ist und unter Auslassung jeder literarisch-ästhetischer Dimension die meaning of structure von Texten ignoriert, auch ungedeckt bleibt. Also leider keine neuen Erkenntnisse über eine problematische Autorin und ihren problematischen Helden. Das ist betrüblich.

 

© Thomas Wörtche, 2018

 

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