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Leichenberg 05/2008

 

Das dritte Mädchen

Jaja, wir kennen sie alle, die erhebenden Formeln, die Rhetorik der Nobilitierung: Der Kriminalroman als Gesellschaftsroman, als Sozialpanorama, als Psychogramm einer Gesellschaft und so weiter und so fort. Manchmal ist da sogar was dran: Laura Lippman etwa, die Kriminalautorin aus Baltimore, hat sich mit Das dritte Mädchen (Rütten & Loening) spürbar Mühe gegeben, eine banale Alltagsgeschichte ganz und gar sorgfältig und genau zu erzählen. In die Tiefe zu gehen, sozusagen. Auslöser ist ein eher unspektakulärer Zwischenfall, den man gerne als "Schulmassaker" hysterisiert. Auf einer Schultoilette fallen Schüsse. Ein Teeniegirl ist tot, ein anderes liegt schwer verletzt im Koma, ein drittes ist nur leicht verwundet. Was ist wirklich passiert? Lippman rekonstruiert das Leben der drei Mädchen, ihrer Familien, ihrer Freunde und Feindinnen, ihres Umfeldes. Und damit einer ganzen Suburb. Und damit eines ganzen gesellschaftlichen Segmentes der USA - unspektakulär, normal, bieder, unsensationell. Und am Ende, muss man erstaunt feststellen - nix als langweilig, dröge und fade. Kein Schock, kein choque, keine Epiphanie, kein Twist, kein Clou. Aber als soziologische Fleißarbeit in Erzählprosa absolut wacker.

Wacker auch Andrew McGahans Versuch, die Anatomie einer flächendeckenden Korruptionsgesellschaft zu beschreiben: Last Drinks (Kunstmann) immerhin bringt uns bei, was für ein verworfenes und verruchtes Eckchen Welt doch das australische Queensland und dessen Hauptstadt Brisbane waren. Schlimme Gegend, das. Politiker, Bullen, die Stützen der Gesellschaft, alles Schurken, alles Gangster! Und gesoffen haben sie ohne Ende. Jahre nach dem Kehraus und der Säuberung kommen die alten Geister wieder und der in die Berge geflohene Held des Romans, ein Ex-Korrumpel der minderen Sorte landet wieder da, wo er längst hätte heraus sein wollen: Im Sumpf. Das ist teilweise grandios gemacht, teilweise pathetisch lächerlich und erträglich eigentlich nur wegen ein paar großartigen Beobachtungen zum Thema "Saufen auf Niveau". Aber schon okay so...

Festung Breslau

Endgültig zum Großmeister devianter Opulenz ist Marek Krajewski aufgelaufen - mit dem letzten Band seiner Breslau-Tetralogie, Festung Breslau (dtv). Wie der Titel andeutet spielt der Roman in den letzten Tagen des 2. Weltkrieges, als Breslau zur Festung gegen die Rote Armee erklärt wurde. Der Krieg, der draußen tobt, funktioniert als verstärkende Kulisse wie weiland der Krim-Krieg in Guilleaume Apollinaires "Les onze mille verges". Naja, so ein reiner Porno ist Krajewskis Roman natürlich nicht, dagegen steht der Furor seines Helden Mock, immer und unter allen Umständen Polizist sein zu wollen. Aber das Stimmungsmilieu aus Gewalt, Erniedrigung, Transzendenz, Blut und Modder formuliert dennoch einen stark gewaltporno-affinen Subtext. Das kann man schon machen, das muss man nicht mögen, aber ein wuchtiges, originelles und faszinierendes Projekt sind die vier Breslau-Romane von Krajewski schon.

Originell ist bekanntlich auch Pablo Tusset, der Spielmatz aus Katalonien. Sein neues Buch, Im Namen des Schweins (Frankfurter Verlagsanstalt) ruft übrigens, vgl. Krajewski, auch die Schwarze Romantik von Maupassant bis Lautréamont auf, spielt aber viel heiterer damit herum. Obwohl "heiter" vielleicht angesichts des ersten Mordopfers des Buches - eine nach allen Regeln des korrekten Schweineschlachtens und -zerlegens getötete Frau - , ein etwas euphemistischer Ausdruck ist. Wie aber Tusset aus einer vermeintlichen Mordgeschichte erst einen Kriminalroman, dann einen fantastischen Roman und am Ende dann einen fantastischen Kriminalroman macht, der uns literarisch vergnügt wie selten einer, das ist schon grosse Klasse.

Tödliche Rechnung

Grosse Klasse ist aber auch ein Roman, der ganz bescheiden daher kommt: Tödliche Rechnung von Michael Koryta (Knaur). Eine robuste Gangster- und Privatdetektiv-Geschichte aus dem unspektakulären Cleveland, down to the ground, mit Schurken, die geldwerte Interessen und mit Menschen, die Schicksale, und Leuten, die Gründe haben, zu töten. Keine schicken Menschen, sondern Bauarbeiter, kleine Kneipiers, Handwerker, gefallene Cops und versoffene Verlierer. Und die vermutlich deswegen nicht so korrekt langweilig sind wie Laura Lippmans middle class teenies. Aber das ist vermutlich eine Frage des Standpunkts...

 

© Thomas Wörtche, 2008

 

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