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Leichenberg 06/2006

 

In der Höhle des Kraken Teufelskult und Atomversuche, Metzeleien und Geheimdienste - typisch Marseille halt. Oder? Doch, doch - zumindest wenn man dem deutschen Untertitel von Oliver Descosse: In der Höhle des Kraken (Blanvalet) Glauben schenkt, denn der heißt eben Marseille-Krimi. Na dann, nach 478 Seiten voller Unfug über ozeanische Sekten, ethnologischen Fidelwipp, Kästchen mit Baby-Hirnen, französischen Machthaberiche, die den Deifi oder so was Ähnliches anbeten, und einen Superduper-Flic ist man einigermaßen erschöpft über all das Böse, wo es gibt auf der Welt. Puuuu, denkt man, gut, dass alles nur Geisterbahn ist und am Ende doch wieder nicht so schlimm. Fein, dass wir uns mal wieder garantiert gedankenfrei graulen durften.

Keinesfalls gedankenfrei ist Oliver Bottinis Im Sommer der Mörder (Scherz). Au contraire. Sein Roman über eine Geheimdienstoperation im Schwarzwald ist sogar sehr durchdacht. Bottini hat die Routine-Arbeit der örtlichen Polizei und seiner Hauptfigur Louise Bonà geschickt recherchiert in einen Plot eingebaut, der erhebliche politische Implikationen hat und sich deswegen auch spannend und realitätstüchtig liest. Der Spannung eher abträglich allerdings ist das Bemühen, einen großen, einen ganz großen (Kriminal-)Roman schreiben zu wollen. Und so wallt - sehr deutsch - die Bedeutsamkeit aus jedem Nebensatz. Kein Blick aus dem Fenster ohne »unerklärliche Gefühle«, kein Holz-, ähm, Waldweg ohne die letzten Dinge. Keine Komik, keine Brechung nirgends, nur abgründige Tiefe. Schade, dass die Qualitäten des Romans unter dem überwölbenden Ehrgeiz, ganz eminent sein zu wollen, fast ersticken.

1977 Atemberaubend intensiv läßt sich auch David Peaces zweiter Teil seines Red-Riding-Quartetts an: 1977 (Liebeskind). Es geht, mehr oder weniger fiktionalisiert, um den sog. Yorkshire-Ripper, der 1977ff eine erschütternde Inkompetenz und Verrottung der englischen Polizei sichtbar werden ließ (und Anlaß zu weitgreifenden Reformen war). Peaces Projekt, die psychosoziale Disposition der Brits in der Prä-Thatcher zu sezieren, ist so einleuchtend wie wenig originell. Jake Arnott hatte vor Jahren eine radikalere Konzeption, nämlich den schwulen Blickwinkel für den ungefähr gleichen Zeitraum (als Trilogie) gewählt, und Derek Raymonds Einfluß ist bei Peace sowieso permanent zu spüren. Warum Peace Raymond in der Galerie seiner Vorbilder nicht nennt und sich statt dessen auf den erfolgsträchtigeren Ellroy bezieht, macht mißtrauisch. Genauso wie die inszenatorische Dauerhysterie aus Stakkato, Gekröse, Blut, Kotze und anderem Auswurf, die Seite für Seite die Intensität des Anfangs in quälende Langeweile mit leichtem Übelkeits- und Überdrußfaktor verwandelt. Nichts hohler und stumpfer als das Dauermonströse, das Dauerelend, der Dauerrott.

Da ist der Schweizer Ulrich Schmid von anderem Kaliber. Sein Roman Aschemenschen (Eichborn), der kühn den Bogen von der in China unterdrückten Minderheit der Uiguren heute bis hin zu den Folterausbildern der Stasi im Äthiopien von Mengistu damals mit durchaus wütendem Aplomb zu erzählen weiß. Schmids Prosa, die es sich souverän leisten kann, die Realitätsebenen zu wechseln und Visionäres und Konkretes zu verschränken, hat eben eine wirkliche Bandbreite, die sich um Bedeutsamkeit und Aufgeregtheit nicht zu scheren braucht. Ein Polit-Thriller der wirklich anderen Art.

Soviel schwääre Kost verlangt nach Entspannung. Deswegen noch der Hinweis auf sehr, sehr hübsche Pastiches von Mark Crick: Die Suppe des Herrn K. Eine vollständige Geschichte der Weltliteratur in 15 Rezepten (Blessing). Nix mit Kochen & Morden, aber die »Lammkeule à la Raymond Chandler«, die »Ausgebeinte gestopfe Hühnchen à la Marquis de Sade«, das »Vietnamesische Hähnchen à la Graham Green« und die »Seezunge à la dieppoise à la Jorge Luis Borges« sind einfach geniale, witzige, elegante Prosaminiaturen.

 

© Thomas Wörtche, 2006

 

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