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Leichenberg 05/2019 (Mai und Juni)

 

KILL

Eher unauffällig, versteckt gar und ohne sinnvolle editorische Ausstattung kommt die erstmals vollständige Ausgabe von Shane Stevens' kapitalem Roman By Reason of Insanity (von 1979!) unter dem eher sensationalistischen deutschen Titel KILL (dt. von Alfred Dunkel / Heiko Arntz, Heyne) daher. Ob dieser Roman Thomas Harris beeinflusst hat oder wen auch immer oder wen nicht, ist herzlich egal. Er ist auch sicher nicht "Die Mutter aller Serienkiller-Romane", wie die U4 trötet, und sein Verhältnis zu "True Crime" ist höchstens als ironisch zu verstehen. KILL ist vor allem und hauptsächlich ein brillanter Roman, komplex, vielschichtig, voller thrill und suspense, auf keine Message zu reduzieren, aber mit einer Menge Implikationen. Erzählt wird die Geschichte des Serien-Täters Thomas Bishop, der frauenmordend eine Blutflut quer durch die USA anrichtet, bestialisch, widerwärtig - der misogyne Exzess par excellence. Bishop, von seiner Mutter so lange gequält und geschunden, bis er sie aus reiner Notwehr abfackelt und ein wenig verzehrt, landet als zehnjähriger Knabe in der geschlossenen Psychiatrie, entweicht dort nach Jahren als empathiefreier, wenn auch zunächst hypercleverer Soziopath, der einen Omnipotenzwahn entwickelt, der ihn am Ende vernichten wird.
      "Das Böse", das ein Blurb von Stephen King in die Debatte wirft, ist alles andere als eine metaphysische Qualität, sondern ein Sozialisationsprozess. Die Metaphysik des Bösen ist lediglich ein Konstrukt, das zwar die einschlägigen Metaphern wie "Hölle" etc. stiftet, aber die tauchen erst in der medialen Aufbereitung der Blutbäder auf und werden von Bishop dankbar als Marketing-Tools aufgenommen. Denn unser Killer weiß, wie er sich gut verkaufen kann. Und Stevens baut die Interdependenzen zwischen "Serialkiller" und Massenmedien sehr geschickt ein. Es ist nicht umsonst ein investigativer Reporter, der letztendlich den Unhold zur Strecke bringt, während Polizei und Kriminologie zu spät kommen, weil sie die richtigen Informationen nicht synchronisieren können. Medien und Serialkiller bilden eine Symbiose, und direkt da schließt Stevens eine weitere Implikation des Themas an: die Moral Panic. In diesem Fall ist das ein republikanischer Politiker, der - wir sind in der Nixon-Ära - mit rigidem Eintreten für die Todesstrafe punkten will. Da kommt ihm ein Serialkiller, der sich zudem noch für den Sohn eines hingerichteten Massenvergewaltigers hält, gerade recht. Und mehr: Auch das Organisierte Verbrechen klinkt sich ein und hilft der Polizei (naja, Remedur mit den ähnlich rüden Methoden, wie auch der Politiker seine eigenen Schmutzspuren beseitigt, das kommt auf dasselbe raus, letztendlich), weil dereguliertes Töten einfach ein geschäftlich schlechtes Klima schafft. Diese Konstellation handhabt Stevens mit großartiger Souveränität, originell allerdings ist sie nicht. Sie entspricht genau der Blaupause, die Fritz Langs "M" vorgelegt hat, was wiederum eine Reaktion auf die Moral-Panic-Kampagnen war, mittels deren in der Weimarer Republik die Gesetzgebung, basierend auf den Serienmördern dieser Zeit (Kürten, Haarmann etc.) leicht zu verschärfen war. Narrative also, die Stevens mit ziemlicher Sicherheit gekannt (haben muss) und die er für die amerikanischen Verhältnisse hochintelligent adaptiert hat.
      Gleichzeitig parodiert Stevens das damals im Gefolge von Capotes "In Cold Blood" und der diversen Manson-Narrative ("Helter Skelter", 1974, et al aufblühende) True-Crime-Business. Nicht vergessen: KILL ist ein Roman, die Ereignisse sind rein fiktiv, die Erzählstrategie basiert auf dem parodistischen Verfahren der "Übererfüllung" (von Textmerkmalen) - zum Beispiel, neben der schieren, gigantisch aufgeblasenen Masse an Morden, die absichtlich nervtötende (und oft auch unfunktionale, und deswegen manchmal auch verwürfelte) buchhalterisch-pedantische Aufzählung von Zeit und Ort. Die allerdings, wenn aus ihrem pseudo-dokumentarischen Kontext gelöst, ein extrem wichtiges Element zum Suspense-Aufbau ergeben. Denn am Ende geht es darum, den Mörder rechtzeitig zu erwischen - oder auch nicht; eine literarische Operation, die Zeit und Raum tatsächlich als Parameter braucht, und die für True Crime, wo das Ende ja feststeht, so nicht funktionieren. Strukturanalogien sind eben nicht immer Funktionsanalogien.
      Zudem kommentiert und kontextualisiert Stevens seine Handlung pausenlos sardonisch-sarkastisch, interessanterweise immer wieder auf das Repertoire der populistischen Rhetorik zurückgreifend ("Lügenpresse" etc.), dessen sich etwa Bishop und der reaktionäre Politiker in schöner Eintracht bedienen.
      Natürlich befeuert Stevens sehr bewusst die morbide Faszination am Mehrfachtäter, der immer wieder entwischt (und zwingt uns, zu unserem Unbehagen, dem Schlächter hin und wieder die Daumen zu drücken, ein immer nur ungern eingestandenes Rezeptionsverhalten, das der Autor ziemlich spöttisch-ätzend freilegt).
      KILL synthetisiert also ein ganzes Set von Serialkiller-Modulationen zu Suspense pur, zu Literatur sui generis. Thomas Harris ging dann einen anderen Weg: Er schließt mit seinen Hannibal-Romanen an ganz andere Kontexte an, zum Beispiel an die Genie-Ästhetik des 18./19. Jahrhunderts, was politisch, geschweige denn ästhetisch ziemlich regressiv war. Derek Raymond setzte mit "I was Dora Suarez" in den 1980er Jahren den Kontrapunkt, in dem er die schöngeistige Verarbeitungsmodelle, für die Opfer herzlich uninteressant sind, literarisch torpedierte.
      Über Shane Stevens (1941 - 2007) weiß man nicht allzu viel, ihn aber als großen Unbekannten zu stilisieren (so war die New York Times schon 1971 auf ihn aufmerksam geworden) dient eher irgendwelchen "Gralshütern" als Selbstnobilitierung. Was man allerdings eine Zeit lang nicht wusste: Unter dem Namen J. W. Rider hat er mit "Jersey Tomatoes" und "Hot Tickets) zwei ziemlich geniale Privatdetektivromane geschrieben, die radikal dieses Subgenre (und seine Renaissance) dekonstruierten, groteske, fast surreale Meisterwerke, die sich ziemlich genial und enigmatisch (von heute aus gesehen: weitsichtig) über die fundamentalchristlichen Aspekte der amerikanischen "Werte"-Welt und deren Zusammenhang mit den Reaganomics lustig machten. Aber dazu an anderer Stelle bald mehr.

Die kalten Sekunden

Unausrechenbare Bücher sind was ganz Feines und was ganz Rares. Und dass ein Buch auf den allerletzten Seiten noch einen wirklich fiesen Dreh hinkriegt, das ist arg selten. Schon deswegen ist Remigiusz Mróz' Die kalten Sekunden (rororo, dt. von Marlene Breuer und Jakob Walosczyk) bemerkenswert. Die Story ist ziemlich irrsinnig: Alles beginnt in Opole, als Damian Werner und seine Freundin Ewa aus der Kneipe kommen und ein bisschen am Flussufer knutschen wollen. Da tauchen drei Typen auf; aggro und auf Zoff gebürstet, schlagen sie Damian zusammen und vergewaltigen Ewa. Als Damian wieder wach wird, ist Ewa spurlos verschwunden, einfach weg. Damians Leben fällt auseinander, er bricht sein Studium ab, fängt an zu trinken, ist überzeugt, die seiner Meinung nach untätige Polizei stecke zudem mit in einem Komplott. Er wird asozial und dauerparanoid. Von Schuldkomplexen gepeinigt, sucht er erfolglos Ewa, seine ganz große Liebe, quer durch ganz Polen und verfällt in eine Art resignative Stasis. Nach zehn Jahren allerdings taucht ein Foto von Ewa auf Facebook auf. Ein deutliches Signal an Damian, die Suche wieder aufzunehmen. Dazu heuert er ein Detektivbüro an, Reimann Investigations. Eine irgendwie seltsame Firma, die in einer Prachtvilla an der Ostsee residiert, angeblich gnadenlos effizient ist, und von Kasandra Reimann geführt wird, während Robert Reimann sich eher anderen Geschäften widmet.       Bis hierhin ist alles klassisch schön undurchschaubar und routiniert rätselhaft. Aber jetzt mischt sich plötzlich neben Damian eine zweite Ich-Erzählerstimme ein - Kasandra Reimann. Und das Buch bekommt einen ersten, sehr beunruhigenden Dreh: Kasandra ist offensichtlich nicht nur wegen ihres gemeinsamen Sohnes an Robert Reimann gekettet. Der ist ein wahnsinniger Psychopath und ein veritabler Großgangster, der Kasandra aufs Brutalste schlägt, tyrannisiert und permanent von seinen Schergen überwachen lässt. Kasandra wiederum ist ihm, anscheinend, psychopathologisch-sexuell verbunden. Zwar nicht nur in Polen ein absolutes neuralgisches Thema, wie Mróz im Nachwort schreibt - aber dort werden jährlich geschätzte 1 Million Frauen (Dunkelziffer höher) Opfer häuslicher Gewalt, drei Frauen pro Woche sterben an den Folgen. An diesen Stellen wird das Buch beinahe unerträglich explizit, Mróz zieht keinen Millimeter zurück, und das ist, weil Einvernehmlichkeit oder Gewaltporn nirgends zu vermuten sind, an dieser Stelle sehr sinnvoll. Es geht darum, Kasandras Situation so ausweglos wie möglich darzustellen und damit eine Tragödie schmerzhaft plausibel zu machen, die sich aus dieser Konstellation ergibt. Denn Kasandra ist kein willenloses Dummchen, sondern sehr clever und sie braucht dringend eine Exit-Strategie. Und da kommen Damian und Ewa ins Spiel. Denn auch Damian braucht dringend eine Exit-Strategie, weil seine erneute Suche nach Ewa ein paar dunkle Gestalten, einschließlich der Polizei aufgestört hat, die jetzt alle hinter ihm her sind. Mehr spoilern geht nicht, weil der Höllentrip, den Mróz jetzt inszeniert, so ziemlich alle Parameter der Weltwahrnehmung virtuos ins Rutschen bringt. Die beiden Ich-Perspektiven kreuzen sich, sind manchmal gleichgerichtet, dementieren sich wieder - und werden immer giftiger. Das ist nicht nur Suspense pur, sondern auch von einer emotionalen Gemeinheit, die schon ziemlich atemberaubend ist. Obwohl ein toternster Diskurs zugrunde liegt, ist das Buch kein Diskurs-Roman, sondern löst seine diskursiven Voraussetzungen in action und thrill auf, ohne sie deswegen zu verraten. Crime fiction, pur.

Dein Schatten ist ein Montag

Ein liebenswürdiger l'art pour l'art-Krimi kommt aus Südkorea: Dein Schatten ist ein Montag (dt. von Paula Weber, Cass Verlag) von Jung-Hyuk Kim. Der wunderliche Privatdetektiv Dongchi Gu residiert in einem eher streng riechenden Gebäude voller seltsamer Käuze und betätigt sich hauptsächlich als Deleter, also als jemand, der für seine Kundschaft unschöne Spuren des Daseins, sei's der analogen oder mehrheitlich digitalen Art, verschwinden lässt. Meist geht es denn Kunden darum, den guten Ruf post mortem zu bewahren, wer möchte schon, dass die Erben auf dem Computer unschöne Seiten finden oder anrüchige Korrespondenzen. Gu gilt als diskret und absolut skrupellos, was gesetzliche Vorschriften und ähnliche lästige Dinge betrifft. Und so könnte das Leben schön sein, wenn nicht Gu doch einen vergifteten Auftrag angenommen hätte, für den er eigentlich nur ein verschwundenes Laptop wiederbeschaffen soll. Dann wir auch noch ein guter Freund ermordet und aus dem kleinen Fall wird ein ganz großes Ding, mit Gangstern, Pornographen, schönen Frauen und fiesen Immobilienhaien. Das hört sich nach einem klassischen PI-Roman der Chandler-Schule an und ist ein klassischer PI-Roman der Chandler-Schule, zeitgeistig angepasst und eben Korean Style. Und genau das macht das Buch so vergnüglich und charmant - die Transformation eines Modells in eine andere Gesellschaft, wobei diese andere, also die koreanische Gesellschaft, genau so transparent wird wie die amerikanische von Chandler. Auch das historische Spatium überlebt diese Operation glänzend - man hat das Modell schon tausendmal gelesen, aber diese spezifische Variante eben noch nicht, was natürlich nur von einem westlichen Point-of-View aus gilt, die koreanische Rezeption würde mich schon interessieren. Aber eben: Variatio delectat.

Jahre des Jägers

Mit dem tausendseitigen Epos Jahre des Jägers (Dt. von Conny Lösch, Droemer) schließt Don Winslow seine Drogen-Trilogie ("Tage der Toten", "Das Kartell") ab und kommt damit in der Echtzeit von 2018 an. Den Kern dieses letzten Romans bildet allerdings nicht mehr den Kampf des Drogenfahnders Art Keller, der inzwischen zum Chef der DEA, aufgestiegen ist, gegen die mexikanischen Drogenkartelle, sondern deren Kampf untereinander und vor allem Kellers Kreuzzug gegen die Trump-Administration. Trump, der im Roman John Dennison heißt, erlaubt durch windige Geschäfte seines Schwiegersohns, im Roman Jason Lerner genannt, einer mexikanischen Kartellbank direkten Einfluss auf die Politik der USA zu nehmen. Aus Kellers Hauptfeind, dem Sinaloa-Kartell, ist ein Syndikat geworden und diesem Syndikat gehört das Weiße Haus - "es wird ein und dasselbe sein", lautet sein resignierter Kommentar und dieser Konstellation widmet Keller seinen letzten großen Kampf.
      Der Clou dieser Konstruktion besteht darin, dass Kellers Bemühen, Trump/Dennison zu Fall zu bringen, strukturanalog zu den Ermittlungen von Sonderermittler Mueller, der im Roman John Scorti heißt, sind, bei denen es bekanntlich um den Einfluss Russlands auf die Regierung der USA geht. Deswegen ist Jahre des Jägers letztendlich ein Anti-Trump-Roman und ein deutliches politisches Statement des Autors Don Winslow, der den moralischen Totalzerfall der USA von einem durchaus patriotischen Standpunkt aus beklagt. Denn Keller ist heroisch genug, um eher sich selbst zu opfern, als die Verhältnisse kampflos zu akzeptieren. Dieser Schachzug verschiebt allerdings die Interpretationsebene des Romans: Wenn die Vorgänge um Trump und die Kartellbank übersetzbar sind in Trump und Russland, dann zieht Winslow eine symbolische Ebene ein, bei der es eben nicht mehr um eine "realistische" (gar semidokumentarische) Darstellung der Drogenindustrie und angeschlossene Geschäftsfelder geht, sondern um ein ganz anderes Thema. Es geht dann nicht mehr um den War-on-Drugs per se, sondern der wiederum ist eine Ebene höher dann nur als eine Chiffre unter anderen für die moralische Korrosion "westlicher Werte" zu lesen.
      Der ultrabrutale Kampf der mexikanischen Kartelle untereinander - ein krass blutiges Jeder-gegen-Jeden, mit Verrat, Intrigen, Koalitionswechseln, Loyalitäts- und Generationenwechseln - inszeniert Winslow in einer Art Game-of-Thrones-Dramaturgie, inklusive überraschender Todesfälle, abgefeimter Schachzüge und sadistischer Exzesse. Auch hier durchläuft der "Realismus" einen Prozess medial vorgeprägter Wahrnehmungsfilter.
      Dabei erweist sich Winslow als Kompilator bekannter Ereignisse (wie zum Beispiel das Massaker an 43 Studenten in der Stadt Iguala im September 2014) oder anderer Narrative aus dem gesamten mittelamerikanischen Raum, wie zum Beispiel die Paraphrase des Film "Sin Nombre" (von 2009), bei dem es um einen Zug geht, auf dem Flüchtlinge aus Guatemala bis zur US-Grenze vordringen wollen. Der Anteil an der von Winslow behaupteter Eigenrecherche schrumpft dann erheblich, wenn man zudem fast alle Ereignisse und Konstellation des Romans in der einschlägigen Presse, in Studien und Blogs nachlesen kann.
      Die Struktur, mit der Winslow seine tausend Seiten zusammenhält, lässt wenig Platz für Kontingenz, die Handlung und die geschilderten Ereignisse erscheinen wie ein Masterplan aus der Hölle, bei dem ein Rädchen ins andere greift, und niemand mehr die Katastrophe verhindern kann. Nicht die inzwischen von der Pharmaindustrie abhängig gemachte Bevölkerung der USA, die ihre Opioide braucht, und nicht die Politik, auf deren Betreiben hin der "War on Drugs" zu einem gigantischen, profitablen Geschäftszweig geworden ist. Insofern bietet Winslows Art-Keller-Trilogie ein geschlossenes Weltbild an. Und damit eine düstere, hermetischen Teleologie, die nur zu stoppen wäre, wenn "Drogen" legalisiert und staatlich-demokratischer Kontrolle unterworfen wären. So, wie Winslow die politischen Verhältnisse eisern rahmt, wäre daran allerdings nur als Utopie zu denken. Utopien allerdings brauchen vermutlich weniger deterministische literarische Formen. So ist Jahre des Jägers ein hypertropher Diskurs mit Spielhandlung.

Cherry

Der Autor von Cherry (Dt von Daniel Müller, Heyne) Nico Walker, sitzt wegen mehrerer Banküberfälle im Gefängnis. Sein mehr oder weniger autobiographischer Erstlingsroman beschreibt den Weg dorthin: Aus einer Familie der unteren Mittelschicht aus den Suburbs von Cleveland, Ohio, stammend, Uni-Abbrecher, erste Kontakte mit Drogen respektive Medikamenten, Gelegenheitsjobs, dann als Sanitäter bei der Army Einsätze im Irak, ohne nennenswerte psychologische Betreuung traumatisiert entlassen, Heroin-Sucht, Beschaffungskriminalität - schließlich Gefängnis: Die Drogenkarriere der namenlosen Hauptfigur zeichnet ein deprimierendes Bild der amerikanischen Gesellschaft der 2000er Jahre. Öde, sinnentleert, unbehaust. Eine Gesellschaft, die erst von der Pharmaindustrie mehr oder weniger ruhiggestellt ist, und dann zu den billigeren Drogen direkt vom Dealer greift. Die "Opioid-Epidemie", die Donald Trump als großes, neues Thema entdeckt hat (seit wann folgt Literaturkritik eigentlich lammfromm Trump'schen Parolen?), ist hausgemacht und hat eine lange amerikanische Tradition.
      Die Werbekampagne und der gewaltige Hype für Walkers Buch hebt darauf ab, es sei "der erste große Roman über die Opioid-Epidemie" (Klappentext) und übersieht dabei großzügig die Tradition, in der der Text steht. Spätestens seit Hubert Selbys "Letzte Ausfahrt Brooklyn" von 1964 ist die Zerstörung menschlicher Existenzen durch Drogen ein Dauerthema der amerikanischen Literatur. Und wenn man möchte, kann man auch Spuren von Jack Kerouacs assoziativem Stil oder Charles Bukowskis Macho-Posen finden, auch wenn diese Echos bei Walker eher erbärmlich anmuten. Besonders unangenehm stößt dabei Walkers Umgang mit den Frauenfiguren auf: Entweder sentimental-erhöhend oder verächtlich. Das mag natürlich milieubedingt sein, aber die sprachliche Inszenierung setzt dem Erzählten keinen Widerstand entgegen. Und da liegt das Problem: Die Kunstlosigkeit des Buches, den Verzicht auf "Plot" kann man benevolent als "kompromisslos", "authentisch", "erfahrungssatt" oder "knallhart" verstehen wollen, aber dann wäre es schwierig, irgendwo über das allseits Bekannte hinaus einen auf ästhetischem Weg erzeugten Erkenntnisgewinn auszumachen. Ähnlich steht es bei den langen Kapiteln über den Kriegseinsatz der Hauptfigur im Irak. Tod, Wahnsinn, Langeweile, Frust, die Sinnlosigkeit solcher Kriege schließen nahtlos an die Reihe der Vietnam-Romane (Philip Caputo, Larry Heinemann u.a.) an, versetzt mit einem kräftigen Schuss "M.A.S.H" und den diversen multimedialen Irak-Kriegsnarrativen. Bei Walker allerdings ist das alles weniger wuchtig, weniger schlagkräftig.
      Vermutlich sollte man das Buch als eine Art literarischer Selbsttherapie lesen, für die man dem Autor Respekt zollen kann. Aber "Authentizität" ist in der Literatur ein gefährliches Qualitätskriterium, schon gar, wenn sie nicht ästhetisch gedeckt ist. Und so gerät Cherry letztendlich fatal nahe an einen "Erfahrungsbericht" über beklagenswerte Zustände und beklagenswerte Schicksale, die allerdings weder besonders radikal noch originell noch besonders erhellend ist. Dass es keine Katharsis anbietet und kaum Selbstmitleid erkennen lässt, gehört allerdings zu den eher positiven Aspekten.

Maigret im Haus der Unruhe

Im Zuge der großen, neuen Maigret-Ausgabe bei Kampa gibt es jetzt als deutsche Erstausgabe Georges Simenons Maigret im Haus der Unruhe (dt von Thomas Bodmer) zu lesen, einen Proto-Maigret von 1932, der damals noch unter George Sim erschienen war. In einem ausführlichen Nachwort geht Verleger Daniel Kampa der Genese der Maigret-Figur in Simenons gewaltigen Gesamtwerk nach und verheddert sich, bei aller Gelehrsamkeit, in den Simenon'schen Automystifikationen (ich mag diese Art der selbstentblößenden Selbsttarnung oder selbsttarnenden Selbstentblößung, die Simenon so grandios beherrschte - so könnte man heute auch mit den sozialen Medien umgehen), so dass die einzige autoritative Instanz letztlich der Text ist. Und der hat schon alle Grundelemente der Figur - Name, Statur, Gepflogenheiten, die Ermittlungsmethode. Ebenfalls schon vorhanden die Qualitäten, mit ein paar Strichen Atmosphäre zu schaffen, Menschen zu skizzieren, ein kleines Soziotop - wie später so oft - eine Hausgemeinschaft zu sezieren und krude psychische Dispositionen und Obsessionen als völlig menschlich erscheinen zu lassen. Das alles ist in nuce da, Maigret konnte von dieser Basis aus seinen weltliterarischen Durchmarsch starten. Der etwas wirre Plot (Doppelgängerin und so) ist noch ein wenig arg an den Haaren herbeigezogen, resp. wurzelt noch ein bisschen in Simenons routinierten Kolportageromanen, aber bof, man liest das erfreulich schmale Bändchen ja eher aus philologischem Interesse und das wird schließlich vergnüglichst bedient.

 

© Thomas Wörtche, 2019

 

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