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Leichenberg 09/2018

 

Die Zügellosen

Paul Reeves ist ein irgendwie gleichzeitig reiner und tückischer Tor. Die Hauptfigur von Colin Harrisons Die Zügellosen (Droemer) ist Anwalt für Einwanderungsrecht in NYC, ein mäßig reicher, etwas wunderlicher, aber netter Sonderling mit einer Obsession: Historische Landkarten, insbesondere von New York. Seine Sammlung ist gewaltig, seine Gier nach seltenen Exemplaren ziemlich zügellos. Besonders die "Stassen-Ratzer"-Karte von 1766 (die "Ratzer"- Karte von 1767 gibt es tatsächlich, angeblich hat sie George Washington persönlich benutzt) hat es ihm angetan, die auf dem Markt auftaucht, - das Goldene Vlies, der Heilige Gral für ihn, klarer Fall von "haben will". Und weil Reeves auch nett ist, hilft er Jenny, seiner Nachbarin, die, mit einem mächtigen Investmentbanker mit iranischen Wurzeln als trophy woman verheiratet, plötzlich ihre alte, große Liebe wiederfindet und ihren Gatten fröhlich betrügt. Reeves bringt diesen Lover, einen ebenfalls zügellos auf Jenny fixierten Ex-US-Ranger im ehemaligen Haus seiner Eltern unter. Nicht ahnend, dass der Banker und dessen Clan, Killer auf den eher rustikalen Loverboy angesetzt haben. Es wird ruppig und blutig und Reeves muss zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. An seine geliebte Karte kommen und gleichzeitig sich den Banker vom Hals schaffen, der mittlerweile Paul als Helfer seiner Gattin im Visier hat.
      Spätestens seit "Der Moloch" (2008) gehört Colin Harrison zu den ganz großen Sozialkartographen von New York City. "Die Zügellosen" ist eine atemberaubende Mischung aus Balzac, Zola und Tom Wolfes "Fegefeuer der Eitelkeiten", versetzt mit knüppelharter Action und einem Schuss Grand Guignol. Die Beschreibung der Soziotope der Reichen, Schönen und Mächtigen ist salzsäureklar gnadenlos (alleine die ausführliche Aufzählung aller Ausschlusskriterien für die Mitgliedschaft in einem superschicken Fitnessclub ist ein Meisterstück in beobachtender Soziologie), sein Verständnis für globalisierte Mechanismen brillant, sein Menschenbild eher skeptisch. Der Grundentwurf des Romans ist bitter-ironisch, was man als satirische Überspitzung lesen könnte, hat einen fast naturalistischen Kern (an der Stelle ist Harrison mit Virginie Despentes' Subutex-Trilogie verwandt - auch "Die Zügellosen" ist ein Roman über Leute und Verhältnisse, die man in einem urbanen Umfeld allesamt kennt), durchsetzt von Ausbrüchen bizarrer Gewalt. Und, wie auch schon in "Der Moloch" (da spielten anscheinend unsichtbare Putzkräfte eine wichtige Rolle), sind die Reichen und Mächtigen zu Fall zu bringen, wenn man auf einer so tiefen Ebene ansetzt, die solche Leute gar nicht mehr im Blick haben. Das ist sehr intelligent, sehr clever und bei allem großartigen Zynismus letztendlich völlig unzynisch oder besser: metazynisch. State of the art.

Finsterwalde

"Relativ bald. Oder vielleicht zwei, drei Jahre später" - so datiert Max Annas seinen neuen Roman, Finsterwalde (Rowohlt). In diesem brandenburgischen Städtchen interniert eine neue, nationalistische Regierung, deren Logo ein großes, geschwungenes D ist, Menschen, die zwar einen deutschen Pass, aber die falsche, nicht-weiße Hautfarbe und afrikanische Wurzeln haben. Andere Lager für asienstämmige Menschen gibt es in anderen Landesteilen und wer es geschafft hat, ist schon längst aus Deutschland geflohen. Die EU gibt es nicht mehr, das neue System basiert auf totaler Überwachung, auf Polizei und Bürgermilizen und auf nie wieder revidierten Ausnahmezustandsgesetzen. Das Lager in Finsterwalde ist mit Stacheldraht umgeben, draußen stehen Panzer und Militär bereit, am Himmel schweben Drohnen und Hubschrauber werfen hin und wieder Versorgungspaletten ab. Um den Aderlass qualifizierter Arbeitskräfte auszugleichen, wirbt die Regierung aus anderen europäischen Ländern weißhäutige Menschen an, denen man in Deutschland eine gesicherte, wenn auch durch Fußfessel gesicherte und überwachte Existenzen verspricht. Die Ärztin Eleni, die mit ihrem arbeitslosen Gatten Theo aus Griechenland nach Berlin gekommen ist, übernimmt die Praxis von Marie, die mit ihren Kindern in Finsterwalde eingesperrt ist. Marie hat in der Wohnung Fotos als Kassiber hinterlassen und so macht sich der neugierig gewordene Theo auf den Weg dorthin. Gleichzeitig brechen Marie und ein paar andere Lagerinsassen aus, um in Berlin Kinder zu retten, die bei den Verhaftungen "vergessen" worden waren und vermutlich am Verhungern sind. Im Kampf gegen Bürgerwehren und Soldaten treffen sie sich und müssen unter lebensgefährlichen Umständen in das scharf bewachte und überwachte Berlin einsickern.
      Die Atmosphäre von allgegenwärtiger Bedrohung, die Annas sehr konsequent erzeugt, leitet sich nicht von einem gegenwartsfernen dystopischen Entwurf her, sondern entsteht umso unbehaglicher, weil er nur gegenwärtige Tendenzen leicht hochrechnet. Racial profiling ist Alltag, biometrische Überwachung längst beschlossene Sache, Grundrechtebeugungen politischer Alltag, "anders" aussehende Menschen leben immer prekärer und Abweichungen von einer algorithmisch definierten "Normalität" werden (im Moment noch nur privatwirtschaftlich) in Scorings abgebildet. Man muss nicht erst auf "Chemnitz" (und die Folgen) hinweisen, um zu bemerken, dass Annas' Extrapolation einen nur relativ geringen Spekulationsquotienten hat.
      Die Hemmschwelle vor nackter Gewalt ist bei Annas deutlich gesenkt, das gilt auch für reaktive Gewalt. Und das ist nicht nur dem Genre "Thriller" geschuldet, sondern ergibt sich schon fast organisch als Option in einem politischen Kontext, der nichts lächerlicher findet als den "herrschaftsfreien Diskurs". Mit "Gewaltverherrlichung" hat das nichts zu tun, im Gegenteil - darin liegt der wirklich dystopische, der wirklich schmerzhafte Punkt dieses bösen Romans, der die wirklich bösen Implikationen eines gegenwärtigen Trends auslotet. Und der dennoch zumindest noch ein paar Tugenden wie Freundschaft, Solidarität und Liebe nicht gleich a priori mit in die Tonne tritt. Es gibt Bücher, die tun weh, "Finsterwalde" ist so eines.

Schattenmänner

Begeisterte Freude an der Destruktion zeichnen die de-Bodt-Romane von Christian von Ditfurth aus, dessen vierter, Schattenmänner (C. Bertelsmann) schon fast moderat zu nennen ist - es fliegt nur ein größeres Gebäude in die Luft, aber keine Bange, die Leichen türmen sich auch so. Das Schöne ist auch hier, dass das Alberne (eine Katzencontent-Internet-Gruppe) und das große Ganze (repräsentiert von der Rüstungsindustrie) auf wunderliche Weise zusammengeführt werden. Zusammengehalten wird der sehr komplexe Plot, in dem es um ein deutsch-französisches Panzer-Projekt geht, das nicht jeder politischen Fraktion in den Kram passt, durch die Figur des Eugen de Bodt. Der ist exzentrisch wie eh und je, quält seine Umwelt mit seinen ewigen Zitaten aus dem Fundus der klassischen Philosophie (wobei immer noch unklar ist, ob er einer bestimmten Philosophie anhängt oder nicht, vergnüglichster Eklektizismus allenthalben, also wenn schon Paul Feyerabend) und liefert sich mit seinen Leuten wunderbare Wortgefechte. Zu "seinen" Leuten - die die bürokratischen starren Behördenhengste wieder sehr schön malträtieren -, gehören inzwischen auch sein französischer Kollege Lebranc (und dessen nervsägender Sidekick Floire) und, als Hilfstruppen im Hintergrund das sinistre Paar von Putins Geheimdienst, Merkow und Katt (die diesmal als Virtuosin im finalen Umgang mit Haushaltsgeräten eher zurückhaltend bleibt). Politische Polizeiarbeit als fröhliche Anarchie, als gelebtes Anything-Goes - ach ja, wenn es doch so zugehen könnte auf der Welt. Wobei: Vermutlich geht es so zu auf der Welt, denn Wahnsinn mit Wahnsinn zu stoppen, ist vielleicht nicht die schlechteste Idee. Und zumindest extrem unterhaltsam.

Das Auge von Hongkong

Das Auge von Hongkong (Atrium) nennt man den Polizisten Kwan Chun-dok, dessen Karriere der gleichnamige Roman von Chan Ho-Kei erzählt. Kwan ist ein Genie der Deduktion und der genauesten Beobachtung, paranoid skeptisch allen und allem gegenüber, eisern nicht korrupt, seinen Job als Dienst an den Menschen verstehend. Kwan hat kein Problem, jenseits der Legalität zu agieren, wenn es ihm passend erscheint. In sechs Episoden, die chronologisch von 2013 bis 1967 rückwärts angeordnet sind, entwirft Chan Ho-Kei eine Art Kriminalitätsgeschichte von Hongkong, von der Kronkolonie bis zum offiziellen Teil der VR China. Zwar bietet jede Episode eine in sich abgeschlossene Geschichte, aber dennoch handelt es sich bei dem Text um einen Roman. Wie geschickt Chan Ho-Kei die einzelnen Figuren durch die Jahrzehnte miteinander verknüpft, erschließt sich tatsächlich erst ganz am Ende des 570-Seiten Backsteins - eine kompositorische Meisterleistung. In der ersten Geschichte, die 2013 spielt, ist Kwan schon tot, und scheint aus dem Off noch ein letztes Verbrechen aufzuklären, dessen Samen schon 1967 gepflanzt worden war. Das ist mehr als tricky und was man zunächst als öde Deduktionsübung à la Sherlock Holmes missverstehen könnte, erweist sich als raffinierter narrativer Schachzug, um die Kontinuität des Organisierten Verbrechens in Hongkong zu erzählen. Die Schwerpunkte wechseln durch die Jahrzehnte - aber es bleibt der Schulterschluss von Politik und Triaden, von Korruption und Ausbeutung. Dass dabei in Chan Ho-Keis Perspektive als nicht-dissidenter Bürger der VR China eine leichte Tendenz zur Verbesserung der Verhältnisse unter chinesischem Einfluss notiert und Inspector Kwan insofern eine letztlich eher polizeifromme Figur ist, ist nicht wirklich überraschend. Beeindruckend sind auf jeden Fall das literarische Konzept und die Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen von Verbrechen in der Megacity.

Falken jagen

In Falken jagen (Pendragon) ist Surasak "Farang" Meier wieder da. D.B. Blettenberg lässt seinen gealterten, aber noch gut erhaltenen Gunman-to-hire thailändisch-deutscher Herkunft nach 15 Jahren Pause zum dritten Mal (nach "Farang" und "Berlin Fidschitown") im Auftrag einer mächtigen thailändischen Plutokratenfamilie ein Ärgernis beseitigen. Dieses Ärgernis ist ein entschlossener Killer namens "Der Falke", der auf thailändischem Boden Menschen umbringt, die anscheinend nichts miteinander verbindet: Deutsche, aber auch einen korrupten griechischen Diplomaten. Ein internationaler Skandal droht, die thailändischen Behörden sind ratlos. Die besagte Familie, die den eigentlich dafür zuständigen, aber inkompetenten Oberpolizisten stellt, fürchtet Gesichtsverlust und lässt Farang von der Leine. Der legt los, kommt dem "Falken" immer näher, aber nicht nahe genug. Farang ist bald klar, dass die Motivlage des Killers komplexer ist als es den Anschein hat. Er gräbt tiefer und stößt zusammen mit seinen Kumpanen Bobby Quinn und Tony Rojana (bekannt aus den anderen Farang-Büchern) auf eine tragische Episode aus dem Zweiten Weltkrieg in der Ägäis, die, wie Geschichte grundsätzlich, noch lange nicht zu Ende ist.
      Schließlich landet er auf der Insel Leros (wo D.B. Blettenberg seit ein paar Jahren lebt) und gerät damit auch in aktuelle griechisch-deutsche Befindlichkeiten, deren "offizielle" (also regierungsamtliche) Sichtweisen Blettenberg kontraperspektivisch sabotiert. Aus einem Thailand-Roman wird ein Griechenland-Buch, eine kleine, liebevoll-kritische Hymne auf Blettenbergs neue Wahlheimat, die trotz Sonne und blauem Meer keinesfalls die reine Idylle ist. Die Blutflecke der Vergangenheit schimmern noch immer deutlich durch, wenn man nur ein wenig unter die Oberfläche schaut. Ganz buchstäblich, denn wie schon in "Fidschitown" ist auch hier die Unterwelt aus Stollen und Tunnel ein wichtiger Protagonist, geschickt verknüpft mit Farangs Freund Bobby Quinn, der im Vietnam-Krieg eine "Tunnelratte" war und dessen Kriegstraumata ihn auf Leros wieder einholen. Dies und eben die Figur Farang bewirken, dass auch die asiatisch-westlichen Verhältnisse einen Subtext des Romans ergeben.
      Nach dem Breitleinwand-Epos "Murnaus Vermächtnis" wählt Blettenberg mit "Falken jagen" ein schlankeres Format - geschichts- und geschichtengetränkt, mit eisigen Dialogen, konsequent durcherzählt, mit einem gehörigen Anteil kreativem Zynismus.

Stern des Nordens

Ein ziemlicher Höllentrip ins Reich der Finsternis bietet D.B. Johns Stern des Nordens (Wunderlich). Der mit viel Zusatzmaterial ausgestattete Roman versucht, eine Innenansicht des nordkoreanischen Regimes zu Zeiten Kim Jong-Ils zu entwerfen und auch dessen Tod 2011 in seinem Luxuszug "Stern des Nordens" mit einem spekulativen Narrativ zu plausibilisieren. Der britische Journalist D.B. John hat für seinen Roman so ziemlich alle Zeugenberichte, eigene Reiseerfahrungen und sonstige Quellen genutzt, um die Atmosphäre dieser Diktatur fühlbar zu machen: Die andauernde, totale Überwachung und soziale Kontrolle, die Dauerparanoia, die unfassliche psychologische und physische Brutalität des Regimes verdichtet er zu extrem beklemmenden Szenen. Die Geschichte der US-amerikanischen Afrokoreanerin Jenna Williams, deren Zwillingsschwester einst von einem südkoreanischen Badestrand entführt wurde, um einer Art Züchtungsprogramm für nicht-asiatisch aussehende Nordkoreaner, zugeführt zu werden - dieser Teil der Geschichte basiert auf Fakten - und sich der CIA anschließt, um Nordkorea zu infiltrieren, bietet Thrill, Suspense und Action, nebst ein paar genre-typischen Überzeichnungen und einem gehörigen Schuss politischer Naivität: So gut und rein sind die Amis in diesem Spiel nun wahrlich nicht. Und wenn die Heldin einen ganzen Zug bis an die Zähne bewaffneter Nordkoreaner platt macht, schert der Roman aus seinen eigenen Parametern aus. Aber lustig isses doch.
      Faszinierender und komplexer sind allerdings die Geschichten von Frau Moon, einer einfachen Koreanerin, die im selben Straflager landet, wie der tief gefallene Spitzenkader Cho, dessen Sündenfall seine nicht systemkonforme, ihm selbst gar nicht bewusste Familiengeschichte ist, die ihn in eine Art Dr.-Mengele-Labor führt. Ein faszinierend-grausiges Buch, das die dramaturgischen Möglichkeiten eines Terror-Regimes für eine entfernte Leserschaft clever nutzt.

Das Verschwinden des Josef Mengele

Apropos Dr. Mengele: Das Verschwinden des Josef Mengele (Aufbau) wirkt auf den ersten Blick wie ein Sachbuch. Aber der französische Journalist Olivier Guez erzählt die lediglich in groben Zügen allgemein bekannte Geschichte des "Todesengels von Auschwitz" in einer kühlen, aber raffiniert arrangierten Prosa, die oft mitten im Satz die Perspektive und den Gestus wechselt und, spekulativ direkt in die widerwärtige Gedankenwelt von Mengele eindringt. Deswegen darf sich das Buch mit Fug und Recht als Roman bezeichnen, wenn man nicht auf Hilfskonstruktionen wie "Doku-Fiction" ausweichen will. Hinter allem steckt natürlich die Frage, wie das Scheusal Mengele bis zu seinem natürlichen, wenn auch unschönen Ende 1979 der irdischen Gerechtigkeit entgehen konnte. Kein schmeichelhaftes Buch, weder für das Argentinien Peróns (dessen großmachtpolitischer Wahnsinn hier sehr geschickt auf den Punkt gebracht wird, ein Aspekt, der eher selten in der Debatte auftaucht) noch für die Bundesrepublik Deutschland, deren Interesse an der Ergreifung Mengeles keine hohe Priorität hatte, im Gegenteil. Nicht umsonst ist Guez auch der Autor des unbequemen Films "Der Staat gegen Fritz Bauer", also über den hessischen Generalstaatsanwalt, der letztlich die Frankfurter Ausschwitz-Prozesse angestoßen hatte und wesentlich zur Ergreifung von Adolf Eichmann beigetragen hatte und somit dem restaurativen Establishment der Bundesrepublik ein Stachel im Fleisch war.
      Und natürlich kümmert sich Guez auch um die Wandlung Mengeles zur popkulturellen Schreck-Ikone (cf. "Marathon Man"), wo es doch nur um die monströse Banalität des Bösen geht. Sein nüchterner Text ist das Antidot zu vielen schicken literarischen Überformungen des Faszinosums "Nazi-Deutschland" à la Jonathan Littell. Ein schlankes, auf vielen Ebenen tief deprimierendes, instruktives und sehr wichtiges Buch.

 

© Thomas Wörtche, 2018

 

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