Die ganze Welt ist ein gigantisches System von Zeichen. Nur wer die wirklich lesen kann, erkennt den tieferen Sinn allen Daseins. Davon ging das Barock aus, und die barockisierende katholische Romantik 200 Jahre später noch mal. Der Sinngarant war natürlich Gott. Nochmal 200 Jahre später ist Gott zwar tot, aber die ganze Welt besteht immer noch aus Zeichen, die man zu lesen und zu deuten verstehen muss. So wie der Tatortspezialist des NYPD, Lincoln Rhyme, und seine Assistentin Amelia Sachs. Rhyme, der Denker, ist querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl, Amelia Sachs ist sozusagen seine Arme, Beine seine Augen. Wir kennen dieses erstaunliche Paar schon aus Die Assistentin (verfilmt als »Der Knochenjäger« mit Denzel Washington und Angelina Jolie). Jetzt, im neuen Roman von Jeffrey Deaver: Der Insektensammler (Blanvalet) gehen Hirn und Körper getrennte Wege. Rhyme soll in North Carolina, wo er sich operieren lassen will, eigentlich nur dem County Sheriff eine kleinen Gefallen tun. Aber die Jagd nach dem Insektensammler in den Sümpfen stellt sich als große Katastrophe heraus. Der Exeget Rhyme interpretiert die Zeichen falsch, Amelia liegt mit ihrem Instinkt richtig, und das stürzt beide ins Elend (barock gesprochen). Beinahe jedensfalls. Wie Deaver das inszeniert, wie er aus kleinen und kleinsten Details Handlungstwists vom Schärfsten herausholt, wie er im Gang der Handlung eine grandiose Dialektik von Ratio und Instinkt entfacht - das ist schon große Klasse. Deavers Romane kommen als schlichte Thriller daher und sind dann plötzlich hochintelligente und spannende Romane jenseits aller Kategorien.
Schon immer hervorragend waren die Polizeiromane aus Seattle von Ridley Pearson, einem Autor, der bei uns notorisch unterschätzt wird. Allerdings ist sein neues Buch, Der Rattenfänger (Bastei) eine kleine Enttäuschung. Aus technischen Gründen - es ist zu lang geraten. Erzählerische Sorgfalt schlägt in diesem Fall um in Lesehemmung. Dennoch - die Geschichte vom Serial-Kidnapper und dem eigenwilligen Polizisten Lou Boldt liegt weit über dem Durchschnitt und ist in ihren ganzen Verästelungen, Intrigen, Gegenintrigen und Gegen-Gegenintrigen vermutlich auch gar nicht knapper zu erzählen.
Denn Pearsons Thema ist auch die Polizei und ihr »Sitz im Leben«, für ernstzunehmende Kriminalautoren ein unerschöpfliches Feld. Und vielleicht der Grund, warum deutsche Leser es so genau gar nicht wissen wollen, weil wir von Derrick & Co. in Sachen Polizei nachhaltig desinformiert worden sind.
Vorzügliche Polizei-Romane kommen bekanntlich auch von Ian Rankin. In Wolfsmale (Goldmann), einem Buch, das in der Rebus-Serie eher an den Anfang gehört (es ist von 1992) muss Rebus aus Edinburgh nach London, um die Kollegen der Metropolitan Police zu unterstützen, was allerlei Anlass zu schottisch-englischen Konflikten der nicht nur harmlosen Art bietet. Ein rundum gutes Buch.
Ein merkwürdig putziges Buch kommt aus dem Haus Rowohlt: Ein sauberes Gewerbe von Margaret Barrett und Charles Dennis: Die New Yorker Müllmafia als Screwball-Comedy mit »Sopranos«-Anleihen. Aber irgendwie noch nicht ganz perfekt. Lustig isses schon und unterhaltsam, aber am Ende mit einem deutlichen - »nöö, ne!« Zu quittieren.
Und dann ist da noch Pierre Magnan, der Poet aus der Haute Provence: Tod unter der Glyzinie (Scherz) - wie ein jeder seiner Romane ein Hammer von einem Buch. Wie immer bei Magnan liegt der Grund für die Verbrechen, die diesmal Sisteron im Jahr 1968 erschüttern, in der Vergangenheit. Und die heisst in diesem Fall Besetzung und Résistance. Geschichte als Zeichen - man muss sie nur deuten können.
© Thomas Wörtche, 2001